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Einwurf 76: Sommerlektüren


Wer früher Alvin Toffler oder Fritjof Capra las, liest jetzt Yuval Noah Harari. Das ist einer, der uns wie Jean Ziegler, Jeremy Rifkin, Joseph Stiglitz oder Paul Krugman jedes Jahr mit einem supergescheiten Buch bombardiert, und zwar nicht mit einem dünnen. Es ist uns rätselhaft, wie diese Leute innert kürzester Zeit zu ihrem enormen Wissen gelangen und dieses literarisch verwerten. Gleichzeitig machen sie ja noch Reisen, geben Interviews, halten Vorträge, nehmen Lehraufträge wahr und haben bestimmt auch noch ein reich erfülltes Privatleben.

Wie auch immer: Zu Harari haben wir es noch nicht geschafft. Dafür haben wir «Factfulness» von Hans Rosling gelesen. Der meint, alles werde besser, obwohl man zuweilen meinen könnte, die Welt gehe bald unter. Das sei aber nur deshalb so, weil man den negativen Fakten und Meldungen dummerweise eine viel grössere Aufmerksamkeit verleihe als den positiven. Das passt auch zur «Beichte» von Jaron Lanier, wonach die Algorithmen aus dem Silicon Valley schlechte Nachrichten verbreiten müssen, um das Fussvolk im Konsumrausch zu halten. Wer nicht nervös ist, kauft keine Beruhigungspillen und wer selbstsicher ist, braucht keinen Lamborghini. (Analog: Wer ein vernünftiges Menschenbild hat, wählt nicht rechtsextrem.)

Herr Rosling gefällt Klaus Schwab und Bill Gates. Uns gefällt er auch, aber aus anderen Gründen: Während sich Gates in seinem Technikwahn bestätigt fühlt, schätzen wir die optimistische Grundstimmung des Buchs. Uns gefällt aber auch Jason Hickel («Die Tyrannei des Wachstums»), der Rosling direkt zitiert und meint, einfach so komme das Gute dann aber nicht. Zudem zitiert Hickel Martin Luther King, der gesagt hat, der Bogen der Geschichte neige sich der Gerechtigkeit zu und kommentiert: «Das mag sein, aber er wird das nicht von allein tun». Für das Gute müssen wir uns vielmehr aktiv einsetzen, so auch in der «BIP-Falle», in der die Lebensqualität für die meisten Leute sinkt, obwohl das BIP steigt. Das ist aber keine Frage der künstlichen Intelligenz, sondern der gesellschaftlichen Solidarität.

An dieser Stelle stecken wir wieder einmal voll in der marxistischen Entwicklungsdialektik drin, aber warum denn nicht? (Ein ebenfalls interessantes Buch ist von Terry Eagleton: «Warum Marx recht hat»). Der «Himmel auf Erden» ist uns garantiert, aber nur, wenn wir ihn selber gestalten, und zwar kollektiv und verbindlich und nicht bloss mit ein paar Portiönchen zufälliger und punktueller «Bill Gates-Charity». Soweit wir verstanden haben, müsste das auch Harari unterschreiben können («21 Lektionen für das 21. Jahrhundert»). Der könnte sich sogar mit einer Art Weltregierung anfreunden, was im gegenwärtigen Kontext geradezu verrückt erscheint. Denn Trump und Co. beeindruckt das sicher nicht. Sie haben auch keine Lust auf anspruchsvolle Sommerlektüren, schliesslich müssen sie Tag und Nacht Schwachsinn twittern und Frauen piesacken.

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