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Einwurf 280: Die falsche Verheissung

Aktualisiert: 15. Aug. 2022


Wenn von Harari, von Piketty oder von mir aus auch von Zizek ein neues Buch herauskommt, ist die kollektive Aufregung immer gross. Darob geraten aber andere Publikationen schnell in Vergessenheit, die durchaus das Zeug zum visionären Klassiker haben. «Die falsche Verheissung» von John Gray aus dem Jahr 1998 ist zum Beispiel so eine.

«Der Washington Nonsens» wäre wahrscheinlich der noch bessere Titel gewesen. Gray beschreibt, wie die globale Marktdiktatur das öffentliche, private und individuelle Leben fundamental (und «destruktiv») zerstört. (Ab einem gewissen Punkt ist das für ihn sogar «irreversibel», aber so weit würden wir dann doch nicht gehen.) Hemmungslos durchmarschierende freie Märkte vertragen sich weder mit intakten Familien noch mit patriotischer Vereinsmeierei. Denn in der McKinsey-Welt sind solche Sachen wertlos; sie kosten viel zu viel und nützen viel zu wenig: Alles bloss ärgerlich.

Gray hat vor über 20 Jahren schon Schlüsselereignisse analysiert und Grosstrends vorausgesagt, die sich seither immer markanter zu «Hard Facts» durchgerungen haben. Dass der Marxismus zum Beispiel in der europäischen Geistes- und Wirtschaftsgeschichte verankert war (Antike, Humanismus, Aufklärung, Idealismus) und allein schon deswegen in Russland und in China scheitern musste. Dass Stalin und Mao den Totalitarismus Hitlers fortschrieben und nicht die Despotie ihrer alten Kaiser. Dass der «Westen» ein Mythos ist, weil die grossen europäischen Nationen (sogar Grossbritannien), Lateinamerika und vor allem Japan letztlich eine völlig andere Auffassung von Lebensqualität haben als Amerika oder Ozeanien (Australien und Neuseeland). Dass der «Aberglaube» in den USA selbst afrikanische Ausmasse übertrifft. (Lipset: «Die Religiosität der Amerikaner zeigt keine Erschöpfungserscheinungen».) Dass Russland als «eurasiatische» Regionalmacht nur mit einem «eurasiatischen» Kapitalismus bestehen kann. Dass sich Japan bereits als (zwar noch ausbaufähiges) Modell eines Postwachstumssystems empfiehlt. Dass China exemplarisch vorspielt, wie eine umweltfeindliche, klimaschädliche Wirtschaft eine ganze Gesellschaft ruinieren kann (und umgekehrt). Dass somit der amerikanische Kulturimperialismus (egal ob der von Fukuyama oder der von Huntington) eine «abergläubische» Illusion ist, was man selbstverständlich nicht zugibt, denn sonst würde man sich ja vom «Aberglauben» verabschieden. (Oder von der Religiosität, was dort meistens auf ein und dasselbe hinausläuft.)

Wie Sennett und Rifkin hat Gray auch das «Ende der Arbeit» als ein zentrales Problem der hemmungslos durchmarschierenden freien Märkte erkannt, also die überflüssigen Arbeitslosen. Vom «garantierten Grundeinkommen» lesen wir in der «falschen Verheissung» aber noch nichts. Auch die IT-Monstren aus dem Silicon Valley kommen da noch nicht vor, der Ground Zero und der Irakkriegskandal, die Finanz- bzw. Eurokrise, die Migrationsdramen und das Coronavirus natürlich ebenfalls nicht. Ausserdem ist nicht klar, ob Neoliberalismus und Neofaschismus nun ein System ausmachen oder zwei. Wir sind für eines (siehe Einwurf 119), weil diese beiden Ismen aufeinander angewiesen sind. Sie müssen sich gegenseitig hochschaukeln, damit sie nicht gemeinsam untergehen. Das macht man explizit – «positiv» im Sinn von «bürgerlichen Allianzen», «negativ» als Rivalen um die Gretchenfrage, wer die wirtschaftsfreundlichsten Lobbyisten stellt – und implizit, indem man Erkenntnisse wie die von Gray tabuisiert. (Entweder merken sie gar nicht, dass diese zutreffen, oder sie merken es schon und geben es einfach nicht zu, oder sie geben es vielleicht sogar zu, finden es aber völlig unwichtig.)

Trotz seinen «Defiziten» wird das Werk von Gray «sträflich» unterschätzt. Ihm widerfährt ein ähnliches Schicksal wie Polanyi, dessen Klassiker über «The Great Transformation» heute kaum jemand noch kennt, während Keynes, Hayek, Popper und Schumpeter im sozioökonomischen Diskurs nach wie vor stark präsent sind. Kein Zufall, öffnen zahlreiche Zitate von Polanyi die Pforte zu Grays «falscher Verheissung».

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