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Einwurf 452: Warum nur Revolutionen und Kriege zu grossen Reformen führen

Aktualisiert: 3. Sept. 2021


«Die sechs jungen Deutschen trugen Mao-Schuhe mit weichen Sohlen oder Fusskettchen oder ironische Monokel, hatten ihr Geld zusammengelegt, betrieben regen Partnertausch und debattierten laut über kantische Ethik und ihren Bezug zu Verkehrsstreitigkeiten. Alle paar Monate verschwand einer von ihnen nach Tunesien oder Indien oder kehrte nach Hamburg zurück, um in das Exportunternehmen der Familie einzusteigen». (Jeffrey Eugenides, «Alte Musik»)


Wer im Wohlstand oder gar im Überfluss aufgewachsen ist, hat mehr Zeit und Lust für Bewusstseinserweiterung und kritische Theorien. Andere müssen Tag und Nacht Holz suchen und Wasser tragen. Die praktische Bewährungsprobe stellt sich jedoch spätestens dann, wenn man sich davor zu schämen beginnt, ein «ewiger Student» zu werden. Für die Heimkehr in das Exportunternehmen (oder den Einstieg in eine Investmentbank) können verschiedene Gründe mobilisiert werden: Krach in der Kommune, Bequemlichkeit oder gar Existenzängste. (Man wird von den Angehörigen zurückgepfiffen und notfalls hochkant aus der «Elite» fortgeschmissen.) Zur Gewissensberuhigung wird dann gesagt, mit den zusammengewürfelten Haufen von den Kommunen bringe man eh nichts auf die Reihe. Und vielleicht freut man sich schliesslich eben doch über den unverdienten und überflüssigen Luxus. Oder man hat ganz einfach schwache Nerven und keinen Durchhaltewillen.


Solche Prozesse finden massenhaft und ständig statt, aber weil sie nie gleichzeitig sind, kann sich auch nie eine starke Bewegung von Reformern herausbilden, die wirklich etwas auf die Reihe bringt. Vorschläge, wie man die Welt besser machen könnte, gab es schon Jahrhunderte vor Kant, aber deren Umsetzung funktionierte nie, weil die Zeitfenster der Reformer immer zu klein waren. Es sei denn im Schlepptau von Megarevolutionen und Weltkriegen, die man sich aber nicht unbedingt wieder herbeisehnen möchte.


Die postmoderne Kasinokapitalisten-Philanthropie ist auch keine Alternative, denn da geht es ja bloss um Steueroptimierung, technologischen Schnickschnack und nette Hobbys wie Balletttänzerinnen, historische Hotels oder englische Fussballclubs. Für einen tiefgreifenden umwelt-, sozial- und kulturpolitischen Paradigmenwechsel setzt sich keiner von diesen grossartigen «Mäzenen» ein, denn das wäre Kommunismus, und der ist bekanntlich die grösste Hölle, die man sich vorstellen kann.


Resignieren muss man deswegen aber nicht: «Sie sagten, die meisten Befreiungsbewegungen seien jeweils daran gescheitert, dass sie nie gleichzeitig stattfanden und deshalb stets praktisch die ganze Welt gegen sich hatten. Also musste man das koordinieren, und mit den neuen Medien war das nun ziemlich einfach …. Ein einziger fantastischer Antinazi-Showdown aus heiterem Himmel …. und die totalitären Strukturen implodierten wie Seifenblasen, auch die wirtschaftlichen und die digitalen.»

(«Die Megatrendigen - Statusberichte 2050», Kapitel 1)

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