Einwurf 266: Der ultimative Persönlichkeitstest
Aktualisiert: 20. Nov. 2023
Heute wollen wir die «Coronagefängnisgedanken» der Einwürfe 261, 263 und 265 noch etwas vertiefen. Zu diesem Zweck zitieren wir Dietrich Bonhoeffer. Der wurde vor 75 Jahren in einem Konzentrationslager ermordet und war ein «doppelter» Gefängnisexperte. Die Publikation «Widerstand und Ergebung» enthält Briefe aus seiner «Todeshaft» und den zuvor (1942/43) verfassten Text «Nach zehn Jahren» aus dem «Kerker» der totalitären Herrschaft. Darin wird diese Herrschaft mit den Werten einer humanistischen Gesellschaft konfrontiert. Bonhoeffer griff das Regime zwar nicht direkt an (das konnte er ja gar nicht), aber allein schon die Untertitel verraten, was in zehn Jahren Hitlerei alles falsch lief. Zum Thema «Qualitätsgefühl» lesen wir das:
«Es geht auf der ganzen Linie um das Wiederfinden verschütteter Qualitätserlebnisse, um eine Ordnung auf Grund von Qualität. Qualität ist der stärkste Feind jeder Art von Vermassung. Gesellschaftlich bedeutet das den Verzicht auf die Jagd nach Positionen, den Bruch mit allem Starkult, den freien Blick nach oben und nach unten, besonders was die Wahl des engeren Freundeskreises angeht, die Freude am verborgenen Leben wie den Mut zum öffentlichen Leben. Kulturell bedeutet das Qualitätserlebnis die Rückkehr von Zeitung und Radio zum Buch, von der Hast zur Musse und Stille, von der Zerstreuung zur Sammlung, von der Sensation zur Besinnung, vom Virtuosenideal zur Kunst, vom Snobismus zur Bescheidenheit, von der Masslosigkeit zum Mass. Quantitäten machen einander den Raum streitig. Qualitäten ergänzen einander».
Der Text ist zeitlos; nur bei der Zeitung und beim Radio liegt er etwas daneben, weil es damals Twitter und Facebook noch nicht gab. Die Botschaft ist klar: In einer «neuen Normalität» soll man nicht wieder die «alte Sau» herauslassen, sondern ganz einfach ein besserer Mensch sein. Wie dieser im Prinzip sein müsste, erfahren wir unter dem Schlusstitel «Sind wir noch brauchbar?»:
«Nicht Genies, nicht Zyniker, nicht Menschenverächter, nicht raffinierte Taktiker, sondern schlichte, einfache, gerade Menschen werden wir brauchen. Wird unsere innere Widerstandskraft gegen das uns Aufgezwungene stark genug und unsere Aufrichtigkeit gegen uns selbst schonungslos genug geblieben sein, dass wir den Weg zur Schlichtheit und Geradheit wiederfinden?»
In der «Home-and-Away-Dialektik» geht es nicht darum, sich mit und in Gefängnissen zu arrangieren, sondern um eine verantwortungsvolle, selbstverständliche Bescheidenheit und eine dadurch «automatisierte» Vermeidung von sinnlosen Exzessen. Zusammen mit einer alters- und lebensphasenunabhängigen nachhaltigen Balance von Innen- und Aussenleben kann man sich so dann völlig gelassen auf alle möglichen privaten, beruflichen und gesellschaftlichen Situationen einstellen. (Gut, wer das Zeug zum Eremiten hat, geniesst hier natürlich gewisse Startvorteile. Nachteile hat er auch, aber die dienen hier nicht als Messlatte.) Die Corona-Erfahrung offenbart nun recht deutlich, wer ein stabiles Nervensystem hat, sich nicht überfordert fühlt und sich eigenständig durchschlagen kann. Auf solche Leute muss man sich verlassen und nicht auf jene, die orientierungslos auf andere «angewiesen» sind (inkl. «Ersatzmenschen» wie Hund und Auto). Die sind nämlich nicht nur krisenuntauglich, sondern beschwören in einer wiederhergestellten «alten Normalität» mit ihrer Dummheit bloss die nächste Krise herauf. Zur «Dummheit» schrieb Bonhoeffer:
«Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit …. Soviel ist sicher, dass sie nicht wesentlich ein intellektueller, sondern ein menschlicher Defekt ist. Es gibt intellektuell ausserordentlich bewegliche Menschen, die dumm sind, und intellektuell sehr Schwerfällige, die alles andere als dumm sind …. Dabei gewinnt man weniger den Eindruck, dass die Dummheit ein angeborener Defekt ist, als dass unter bestimmten Umständen die Menschen dumm gemacht werden bzw. sich dumm machen lassen. Wir beobachten weiterhin, dass abgeschlossen und einsam lebende Menschen diesen Defekt seltener zeigen als zur Gesellung neigende oder verurteilte Menschen und Menschengruppen …. Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen. Der Vorgang ist dabei nicht der, dass bestimmte – also etwa intellektuelle – Anlagen des Menschen plötzlich verkümmern oder ausfallen, sondern dass unter dem überwältigenden Eindruck der Machtentfaltung dem Menschen seine innere Selbstständigkeit geraubt wird und dass dieser nun – mehr oder weniger unbewusst – darauf verzichtet, zu den sich ergebenden Lebenslagen ein eigenes Verhalten zu finden».
Zusammengefasst: Die Langweiler und die Gelangweilten sind nicht das Mass aller Dinge, die Nervösen, Unstabilen, Lärmigen, Rastlosen, Getriebenen, Gejagten, psychotisch allen blödsinnigen Reizen Erliegenden sind es erst recht nicht, und die Dummen sind es zu allerletzt.
Die Wasserscheide befindet sich dort, wo sich die intrinsisch motivierten Individuen für den Plan (oder eben das Tal) A entscheiden. Sie fallen niemandem zur Last und brauchen auch nicht laufend fragwürdige «positive Signale» von irgendwoher (wie etwa die Apfel-Birnen-Vergleiche für die Coronafälle, die ganz einfach fies sind: Bei den Ausländern nimmt man die Johns Hopkins-Zahlen, bei den einheimischen aber die viel niedrigeren vom BAG). Besonders gut ausgerüstet sind Primarlehrer/innen, Multitalente, die man eigentlich alle einzeln «patentieren» müsste. Ihr Krisenmanagement ist tadellos, obwohl sie ziemlich unvorbereitet ins kalte Wasser tauchen mussten, und trotzdem ist ihr kollektives Lamento im Vergleich zu anderen Berufsgruppen praktisch inexistent.
Die Coronakrise ist die grosse Chance für eine gründliche Body-Mind-Katharsis. Man muss die Zwangsklausur als Soliditätstest auffassen. Füdli putzen kann man ja auch nicht delegieren. Darüber hinaus lässt man nun mit Vorteil alles stehen, was in der Krise gut funktioniert hat, und was über Nacht überflüssig und nur noch lästig erschien, davon lässt man am besten für immer die Finger. Sexboxen zum Beispiel, den Sonntagsterrorismus mit furzendem Rennwagenblech oder die Chaoswirtschaft der Parteiparlamentarier….
Für das Krisen- und Nachkrisenmanagement völlig unbrauchbar sind auf jeden Fall die Online-Tipps von «Promis» und anderen «Influencern». Die sind alle etwa gleich blöd wie die Firmenseminare, wo mit ultrakomplexen Projekten beschäftigte Manager von Spitzensportlern lernen sollen, einen Auftrag auf die Hundertstelsekunde und den Tausendstelmillimeter genau «auf den Punkt» zu bringen. (Das erzeugt bloss überflüssigen Stress und macht alle hässig.) Eine kranke, arbeitslose und alleinerziehende Putzfrau hat mit einem göttlich gesegneten chinesischen Hedgefondsmilliardär rein gar nichts zu tun. Da übt sie sich besser in der Selbstverhandlungstechnik. Wenn schon online, dann so etwas.