Einwurf 677: 40 «erstklassische» Theatersaisons
Soeben ist das Saisonprogramm 24/25 des Schauspielhauses Zürich publiziert worden. Es hat mich überhaupt nicht vom Stuhl gehauen, aber das hatte ich geahnt (siehe Einwurf 657).
Das Problem beginnt dort, wo keine «echten» Dramen, sondern nur noch dramatisierte Romane oder gar wilde Fantasien von Regisseuren und Schauspielern zur Aufführung gelangen. Unverfälschte «Klassiker» muss man im Programm 24/25 mit der Lupe suchen, ein gigantischer Unterschied zur Tonhalle, zum Opernhaus und selbst zum Kunsthaus. Nur Spinner bedienen sich nicht aus dem Schrank zeitloser Qualitätskunst. Oft heisst es, die Sprache der alten Stücke sei nicht mehr zeitgemäss, oder die Spieldauer sei zu lang. Aber da muss man durch; bei Bach und bei Wagner macht man das auch. Im Notfall kann man ja einzelne Begriffsungetüme «modernisieren», so wie das bei Übersetzungen aus anderen Sprachen eh geschieht.
Selbstverständlich haben Regisseure und Schauspieler im Rahmen ihrer Betriebsbudgets auch die Freiheit, «Klassiker» nach ihrem Geschmack aufzumotzen. Idealerweise tun sie das dann auch direkt vor oder nach dem Original: «Die Räuber» von Schiller folgen auf «Die Räuber» nach Schiller von XY, oder umgekehrt. So kommt es zu einer interessanten Gegenüberstellung. Der Fundus ist unerschöpflich:
Aischylos, Sophokles, Euripides, Aristophanes, Plautus, Calderón, Shakespeare, Gryphius, Molière, Beaumarchais, Goldoni, Lessing, Goethe, Lenz, Schiller, Kleist, Grillparzer, Büchner, Nestroy, Tschechow, Ibsen, Strindberg, Hauptmann, Schnitzler, Hofmannsthal, Wedekind, Sternheim, Zuckmayer, Brecht, Horváth, Gorki, Shaw, O’Neill, Miller, García Lorca, Sartre, Frisch, Dürrenmatt, Bernhard, Handke, Strauss, Beckett, Genet, Ionesco, Fo, Albee, Pinter und viele andere. Das macht mindestens 200 absolute Spitzenwerke, und wenn man pro Saison fünf «Doppelveranstaltungen» veranschlagt, ergibt das bereits einen soliden Bodensatz von 40 Jahren Lebensdauer.
Dazu füllt man das Programm mit Experimenten, Uraufführungen, «Welttheater»-Gastspielen und «Begleitmusik» aller Art (siehe Einwurf 657). Wetten, dass das Publikum dann nur so herbeiströmt.
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