Einwurf 168: Geisteswissenschaften
Aktualisiert: 25. Aug. 2022
In den Feuilletons erscheinen seit Jahrzehnten immer wieder Beiträge zur «Legitimationskrise» der Geisteswissenschaften. Das ist nicht weiter verwunderlich, wo diese Geisteswissenschaften doch überhaupt nichts nützen und eh bloss von dummen Frauen und faulen Männern studiert werden. Doch was sind denn eigentlich Geisteswissenschaften? Im Umfeld des legendären Wiener Kreises haben sie ja schon mal behauptet, Wissenschaft sei ausschliesslich Naturwissenschaft und Mathematik, allenfalls noch Medizin und Psychiatrie oder Geografie, und damit basta. (Heute kämen da wohl noch die Informatik und die Ökologie hinzu.) Ganz falsch ist diese Position nicht, nur geraten bei ihr gleich auch noch die Jurisprudenz, die Ökonomie und die übrigen Sozialwissenschaften unter die Räder. Zu denen kann man aber durchaus auch die Geschichts-, Sprach-, Bildungs- und Kommunikationswissenschaften zählen, weiter Fächer oder Disziplinen wie Politologie, Soziologie, Ethnologie, Anthropologie usw., und statt von Sozialwissenschaften sollte man vielleicht besser von Kulturwissenschaften sprechen, um so einen starken Gegenpol zu den Naturwissenschaften zu markieren.
Jedenfalls liegen die Geisteswissenschaften, sofern es sie überhaupt gibt, zwischen mehreren Stühlen und Bänken. Die Nähe der Psychologie zur Philosophie ist offenkundig, und Philosophie ist definitiv keine Wissenschaft. Auch die Theologie ist es nicht, denn sie gehört zur Religion. Die Welt der Götter ist erkenntnistheoretisch unfassbar. Und wo primär Kreativität angesagt ist (Musik, Theater, Tanz, Architektur, Film, Design, Installationen, Performances usw.) sind die «Akademien der schönen Künste» zuständig und sicher nicht die «exakten» Fakultäten mit ihren «empirischen» Methodenzwängen. Man kann zwar auch einem Gedicht von Hölderlin mit einem Berg von Statistiken zu Leibe rücken, aber solche «Experimente» schiessen am Kern der Sache vorbei, und der Erkenntnisgewinn ist dann wirklich gleich null. Auch die «schönen Künste» entziehen sich weitgehend einer rationalen Analyse. Man kann es drehen wie man will: Eine Geisteswissenschaft, welche mit mathematisch-naturwissenschaftlichen Methoden operieren will, hat in der Tat ein riesiges Legitimationsproblem.