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Einwurf 572: Die Verdammten dieser Erde


So heisst das Buch von Frantz Fanon aus dem Jahr 1961, und 60 Jahre später ist es so aktuell wie nie zuvor. Da steht ausser über Gender/LGBTI und Umwelt/Klima bereits alles drin, was heute noch und auch in Zukunft Sache ist bzw. sein wird. (Würdige Nachfolger von Frantz Fanon sind zum Beispiel Achille Mbembe und Lilian Thuram.) Fanon ging es zwar primär um die Abschüttelung der alten Kolonialmächte in Afrika, aber deren Rollen haben inzwischen einfach andere übernommen, nämlich Amerikaner, Japaner, Chinesen und Russen. Auch die Europäer sind ja immer noch präsent, wie alle anderen halt nicht mehr als Kolonialherren alter Schule, sondern als Lobbyisten von Grosskonzernen, als Gläubiger von Milliardenkrediten oder als «antiterroristische» Sicherheitsalliierte.


Der zentrale Begriff des Buchs ist denn auch die «Gewalt». Sie sei den (afrikanischen) Befreiungskämpfern nicht einfach angeboren, sondern von diesen «erlernt» worden, schrieb Fanon. Daran seien die Kolonialisten und ihre Nachfolger selber schuld. Sie hätten jahrzehntelang behauptet, die Afrikaner verstünden nur die Sprache der Gewalt und sollen sich nun nicht so dämlich wundern, wenn diese Sprache neuerdings auch «von unten» in die Tat umgesetzt werde. Gewaltlose Transitionen in eine höhere Lebensqualität wären zwar schöner, unter den gegebenen historischen Voraussetzungen aber ziemlich unrealistisch. (Fanon war stark in den Algerienkrieg verwickelt.)


Das dynamische neue Afrika im Dienste der (westlichen und östlichen) Weltkonzerne setzt auf korrupte einheimische «Eliten»; das sind gemäss Fanon die «neokolonialisierten» Intellektuellen unter den lokalen Mitmachern. Die konnte man direkt aus der klassischen Kolonialzeit übernehmen; sie wurden jetzt einfach ein bisschen teurer. Dazu kommt eine «unheilige Allianz» mit dem immobilen alten Afrika. Das sind die «unaufgeklärten» Bauern, das verachtete Landvolk allgemein (Stimmvieh für Rechtsextremisten), traditionelle Künstler, Medizinmänner und die «Föderalisten». (Im Gegensatz zu anderen Autoren hielt Fanon vom Tribalismus gar nichts, weil er nicht basisdemokratisch sei und die Zwietracht schüre. Letztlich sei er sogar rassistisch.) Seht hin, sagen die «Eliten», die können zwar lustige Tänzchen aufführen, aber mit denen kann man unmöglich das durch und durch globalisierte 21. Jahrhundert überleben. Also müssen wir das für sie erledigen («fürsorglich», mit Sklavenarbeit, Essensgutscheinen oder so).


(Zwei Zwischenbemerkungen: 1) «Eliten» garnieren wir mit Anführungszeichen, weil es für uns so etwas wie unethische Eliten gar nicht gibt. 2) Man muss nicht unbedingt nach Afrika gehen, um solche «bürgerlichen» Allianz-Konstellationen zu «erleben».)


Die «Guten» von Fanon dagegen sind nationale Bewegungen oder Parteien mit internationaler Gesinnung und Inklusionsstrategien. Ihre «Aktivisten» sind gesellschaftskritische urbane Intellektuelle mit ruraler Bodenhaftung. Sie sind unbestechlich, bestens ausgebildet und gehen kommissarisch aufs Land, um die Bauern aufzuklären. Zentral ist zudem die Rolle der revolutionären Kulturschaffenden (Dichter, Maler, Sänger). Sie sichern die Verbindung zwischen Tradition und Moderne und zwischen Kunst und Politik.


Damit ist jedoch klar: Im Vergleich zu den «Bösen» verfügen die «Guten» über miserable Ausgangspositionen. Leider, so Fanon, fehle es in Afrika an einer sozialliberalen Bourgeoisie bzw. einem Mittelstand, der mit politischen Reformen für die gesellschaftliche Kohäsion sorgen könnte; von der französischen Revolution wurde Afrika nicht erfasst. Die einzige Ressourcen-Chance für die «Guten» seien daher die ungebildeten (ländlichen) Massen; so bleibe halt nur der direkte Weg in den Marxismus übrig. Und dadurch eben in eine Dynamik, worin die Anwendung von Gewalt schon fast obligatorisch ist, damit eine nachhaltige Transition wenigstens eine Startchance bekommt.

Mit Fanon kann man nicht nur Afrika, sondern die ganze Welt verstehen. Auch in der Ukraine haben wir genauso wie in Russland korrupte einheimische «Eliten», die mit (westlichen und östlichen) Weltkonzernen verbandelt sind («Geteilte ostslawische Wirtschafts- und Politikkultur»). Und auch dort führt der Weg zum Frieden über Bildung und Kunst von innen und unten heraus, und nicht über die NATO und einen «Marshallplan». Allein schon die besserwisserischen «Tagesbefehle» von Herrn Selenskyj gehen uns auf den Geist. Kommunistische Revolutionen kann man sich zwar überall gerne ersparen, aber wenn die Supermächte und ihre Marionetten ungebremst an der Weltkriegs-Gewaltspirale drehen, kommen sie halt wie das Amen in der Kirche. (Siehe Russland während des Ersten Weltkriegs und China nach dem Zweiten.)


Über die individuellen «Kollateralschäden» von Kriegen berichtete Fanon in seiner Eigenschaft als Psychiater im letzten Teil seines Buchs. Man sollte den unbedingt mitlesen, um zu begreifen, was auf jede und jeden von uns zukommen könnte, wenn wir nicht auf der Hut bleiben.




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