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Einwurf 147: Der Beethoven-Tsunami

Aktualisiert: 14. Okt. 2022


Wer die Veranstaltungskalender der soeben angelaufenen Konzertsaison konsultiert, wird von einer Überdosis Beethoven erdrückt. Dabei ist dessen 250. Geburtstag erst im Dezember 2020. Das ist zwar nicht weiter schlimm, denn es gibt viele Komponisten, die weniger gut sind als Beethoven. Aus unserer Sicht sind das sogar alle. Die Fachwelt hingegen stellt ihn regelmässig bloss auf Platz 3 und streitet höchstens noch darüber, ob die Goldmedaille nun Bach gehöre oder Mozart. Denn die gelten als «überirdisch», «himmlisch», «göttlich» usw.

Bach war sicher der beste «Architekt» von allen und Mozart hat die schönsten Melodien geliefert. Aber das reicht, bei aller religiösen Ehrfurcht, nicht für das «Gesamtgold». Keiner der beiden wäre je in der Lage gewesen, so etwas wie die Eroica, die Hammerklaviersonate oder die Streichquartette Opus 130-132 hinzukriegen. Das geht nicht «einfach so» aus der repetitiven Massenproduktion heraus. Dafür braucht es bei jedem neuen Werk zwingend sowohl tiefsinnige Reflexion als auch prozesstechnische Tüftelei. Am Schluss ist dann auch wirklich alles drin, nicht nur ein Teil: Struktur, Rhythmus, Dynamik, Fugen, Variationen, Altes, Modernes, Simplizität, Komplexität, rabiates Zeug und himmlische Harmonien. Und statt dem lieben Gott (egal ob alttestamentlich wütend oder aufgeklärt distanziert) ist jetzt einfach der hegelianische Geist der grosse Inspirator. Spielt das eine Rolle? Nicht unbedingt, ausser dass dieser dem heutigen Menschen schon viel nähersteht als jener.

(Hegel: «Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch die Entwicklung sich vollendende Wesen».)

Wie auch immer: Man soll sich da weder von festzeitlichen Sentimentalitäten noch vom Jubiläumsbusiness beeinflussen lassen. Abgesehen davon spricht «Seid umschlungen, Millionen» die ganze Welt an und nicht nur protestantische Kirchgänger und aristokratische Feinschmecker.

Riccardo Chailly hat einmal gesagt, Beethoven sei die «Wasserscheide» in der Musikgeschichte. Wir sagen: Beethoven ist der Gipfel. Hinauf geht’s mit Bach, Händel, Haydn und Mozart, hinab über Schubert, Brahms, Wagner, Bruckner, Mahler, Strauss und Schostakowitsch. Die Eroica ist neben dem Frühlingsopfer auch die grösste «Revolution» in der Musikgeschichte (die Eroica hat den Barock und das Rokoko versenkt, das Frühlingsopfer die Romantik) und die 9. Symphonie geradezu ein Konzentrat davon. Beethoven hat die Komponisten des ganzen 19. Jahrhunderts übermächtig dominiert.

Auch hat er in sämtlichen klassischen Sparten ausser dem Lied, dem Ballett und vielleicht noch der Oper das absolute Spitzenwerk geschrieben. Der Fidelio wird grobfahrlässig unterschätzt. Er hat schon rein musikalisch klar das Niveau von Don Giovanni und Zauberflöte und aussermusikalisch sowieso (siehe unten). Man muss nur die originale Leonore-Version spielen, oder wenigstens die «Mahler-Variante» mit der «Leonore-Zwischenaktmusik». Es gibt da auch keine einzige schwache Nummer, und alle Nummern sind völlig unverwechselbar. (Bei Mozart ist das nur in der Zauberflöte der Fall und sicher nicht in Cosi fan tutte, einer Oper, die grobfahrlässig überschätzt wird.) Zusammen mit dem Freischütz bildet der Fidelio auch das unabdingbare Scharnier zwischen Mozart (1. Akt) und Wagner (2. Akt). Dixit Daniel Barenboim.

Zur «aussermusikalischen» Dimension nur das: Was zuweilen als «pathetischer Moralismus» kritisiert wird, ist in Tat und Wahrheit ein genialer Brückenschlag zwischen (öffentlichem) Weltfrieden und (privater) Partnersolidarität, nicht nur im Fidelio und der 9. Symphonie. Das gefällt einfach jenen «unachtsamen» Typen nicht, für welche Lebensfreude bloss über Ignoranz, Rücksichtslosigkeit und andere Charakterschwächen funktioniert.

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